Vocalise in Potsdam
Romantischer Aufbruch
Die Vokalakademie Potsdam eröffnete am Wochenende die diesjährige „Vocalise“ in der Erlöserkirche – und das bemerkenswert vielseitig.
Potsdam – Als exzellente Spielwiese für die Vokalakademie Potsdam erwies sich das Eröffnungskonzert der diesjährigen „Vocalise“ am Samstag in der Erlöserkirche. Das bemerkenswert vielseitig agierende professionelle Ensemble wartete unter der Leitung von Ud Joffe mit der großen Linie auf. Mit feiner dynamischer Differenzierungs-fähigkeit wurde ein weites Spektrum von Chormusik der Romantik souverän abgedeckt. Mit „Wo ist ein so herrlich Volk“ aus den Fest- und Gedenksprüchen op. 109 von Johannes Brahms wurde das Programm eröffnet. Diese Motetten gehören zweifellos zu den bedeutendsten Werken ihrer Art im 19. Jahrhundert. Musikalisch bauen sie auf Brahms’ Studien der alten Meister auf und der Integration von gewonnenen Erfahrungen in seinem persönlichen Stil. Der Zweichörigkeit der Motette näherten sich die 16 Sänger nicht mit vorsichtigem Bedacht, er wurde sofort mit Vehemenz gesungen und ausgeleuchtet.
In der romantischen Literatur und Musik wimmelt es nur so von Wanderburschen auf der Suche nach Geheimnissen. Man lauschte dem Jagdhorn und die Ferne lockte mit ihren vom Mond beglänzten Zaubernächten, ihren verwunschenen Gärten, wo die Burgen von den Bergen grüßten. Raus aus der Enge in die Ferne. So sahen die romantischen Aufbrüche aus. Der Glaube an die Vernunft wird nun vom Glauben an das Gefühl abgelöst. Man widmet sich dem Emotionalen, Phantastischen und dem Mystischen. Der religiöse Glaube hat an Subjektivität gewonnen. Von all dem war etwas im Konzertprogramm der Vokalakademie zu hören, ob bei Max Bruch, der das Mörike-Gedicht „Herr, schicke, was du willt“ vertonte. Im munteren Jagdlied von Felix Mendelssohn Bartholdy oder in Robert Schumanns Chorsatz „Der König von Thule“ nach der bekannten gleichnamigen Ballade von Goethe. Sie wurden von der Vokalakademie mit viel Ausdrucksreichtum dargeboten, ohne die berühmten Drücker anzuwenden, die gern in der romantischen Vokalmusik benutzt werden.
Mahler und Gottwald als Höhepunkte
Höhepunkt des Konzerts waren die Interpretationen der Gesänge von Gustav Mahler in den Bearbeitungen von Clytus Gottwald. Der hat dem aus seiner Sicht eklatanten Mangel an spätromantischer Chormusik dadurch abgeholfen, dass er Lieder und andere Sätze für Chor umarbeitete. Zunächst erklang das letzte der „Lieder eines fahrenden Gesellen“, „Die zwei blauen Augen“, danach unter anderem das gleichfalls für 16 Stimmen „Wo die schönen Trompeten blasen“ aus „Des Knaben Wunderhorn“. Gottwald trat immer wieder mit überzeugenden Arbeiten hervor und auch bei Mahler erweist sich sein Gespür für Chormusik in klangvollen Passagen, im gekonnten Transfer der vertrauten Klangkulisse (Klavier oder Orchester). Zugleich drängte sich die Frage nach der individuellen Stimme auf, die durch den Chor spricht. Und: Es gibt in den Sätzen immer wieder manch exzentrischen Linienverlauf, manch überraschenden Registerwechsel im Bemühen, die oft ausgreifende Instrumentalität abzubilden. Für jeden Chorsänger bedeuteten die Bearbeitungen Gottwalds eine große stimmliche Herausforderung, die sie in bewundernswerter Weise meisterten. Die sehr kultivierten, wandlungsfähigen Register des Chores standen in einem harmonischen Verhältnis zueinander, die Crescendi und Decrescendi waren von erstaunlicher Ausdehnung und Gleichmäßigkeit und die Intonation war makellos. Dirigent Ud Joffe hat ein abwechslungsreiches Klangbild geschaffen. Der warmherzige und dankbare Beifall bewegte die Vokalakademie und Ud Joffe zu einer Zugabe.
Klaus Büstrin
Erschienen am 18.11.2019 auf Seite 23